Medizinische Standards und ihre Bedeutung für die Arzthaftung

Die Bedeutung von medizinischen Leitlinien

Ärztinnen und Ärzte müssen tagtäglich verantwortungsvolle Entscheidungen treffen – oft in komplexen medizinischen Situationen. Um die Qualität und Sicherheit ärztlicher Behandlungen zu gewährleisten, gibt es medizinische Leitlinien. Besonders bedeutsam sind die sogenannten S3-Leitlinien. Doch was genau regeln sie? Und welche rechtlichen Folgen kann es haben, wenn Ärztinnen und Ärzte von ihnen abweichen?

Dieser Beitrag erläutert die verschiedenen Arten medizinischer Leitlinien, ihre rechtliche Relevanz und welche Rolle sie in Arzthaftungsfällen spielen.

Was sind medizinische Leitlinien?

Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte Handlungsempfehlungen für die ärztliche Versorgung. Sie sollen helfen, fundierte Entscheidungen auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse zu treffen.

Herausgegeben werden sie in Deutschland unter Federführung der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften). Die Leitlinien werden in drei methodische Entwicklungsstufen unterteilt:

S1-Leitlinien

Basieren auf dem Konsens weniger Expert:innen – ohne systematische Literaturrecherche oder formale Abstimmung. Sie dienen eher als Orientierungshilfe.

S2-Leitlinien

Gibt es in zwei Varianten:

  • S2e (evidenzbasiert): Beruht auf systematischer Literaturauswertung.
  • S2k (konsensbasiert): Stützt sich auf strukturierte Konsensprozesse, ohne systematische Evidenzsuche.


S3-Leitlinien

Sie kombinieren systematische Evidenzrecherche mit einem formalen Konsensverfahren. Sie gelten als maßgeblicher Standard ärztlicher Behandlung – insbesondere in der stationären Versorgung.

Weitere rechtlich relevante Vorgaben im ärztlichen Alltag

Neben medizinischen Leitlinien sind für ärztliche Behandler auch folgende Regelwerke relevant:

  • Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA): rechtsverbindlich, z. B. zur Qualitätssicherung.
  • Berufsordnungen der Landesärztekammern: berufsrechtlich verpflichtend.
  • Standard Operating Procedures (SOPs): interne Klinikvorgaben, häufig auf Leitlinien basierend.
  • Facharztstandards: definieren den Maßstab für das Wissen und Können einer Facharztgruppe.


Die rechtliche Bedeutung von Leitlinien – insbesondere S3-Leitlinien

Leitlinien sind keine Gesetze. Sie entfalten jedoch erhebliche mittelbare rechtliche Relevanz, insbesondere in der Arzthaftung.

Laut § 630a Abs. 2 BGB muss die Behandlung „nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards“ erfolgen. Leitlinien – vor allem S3-Leitlinien – dienen Gerichten als maßgeblicher Anhaltspunkt für die Feststellung dieses Standards.

Wann wird eine Leitlinie haftungsrechtlich relevant?

In Arzthaftungsprozessen wird geprüft:

  • Galt die Leitlinie im Zeitpunkt der Behandlung?
  • War sie für die konkrete Behandlungssituation einschlägig?
  • Hat der Arzt von der Leitlinie abgewichen – und wenn ja, warum?

Darf ein Arzt von der Leitlinie abweichen?

Ja – aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Leitlinien sind nicht verpflichtend, sondern stellen eine Orientierung dar. Die individuelle Situation des Patienten kann eine Abweichung medizinisch sogar gebieten.

Allerdings gilt:

  • Abweichungen müssen medizinisch vertretbar sein.
  • Sie müssen sorgfältig begründet und dokumentiert werden.
  • Fehlt eine Dokumentation, kann dies haftungsrechtlich nachteilig ausgelegt werden.


Grober Behandlungsfehler und Beweislastumkehr

Besonders riskant wird eine Abweichung dann, wenn sie als grober Behandlungsfehler gewertet wird. In solchen Fällen kann es zu einer Beweislastumkehr zugunsten der Patientin oder des Patienten kommen (§ 630h Abs. 5 BGB). Dann muss der Arzt beweisen, dass der Fehler nicht ursächlich für den Gesundheitsschaden war – was in der Praxis nur selten gelingt.

Ein grober Behandlungsfehler liegt etwa vor, wenn:

  • eine Leitlinie eindeutig eine Maßnahme verlangt,
  • diese ohne nachvollziehbaren Grund unterlassen wurde,
  • und dadurch objektiv ein nicht mehr verständliches ärztliches Vorgehen gegeben ist.


Fazit

S3-Leitlinien sind ein zentraler Maßstab für ärztliches Handeln – medizinisch wie rechtlich. Sie bieten Ärztinnen und Ärzten Orientierung und helfen dabei, die Behandlungsqualität zu sichern. Gleichzeitig dienen sie Gerichten als objektive Grundlage zur Beurteilung, ob eine Behandlung dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprach.

Für Patientinnen und Patienten stellen S3-Leitlinien ein wichtiges Kriterium dar, um eine ärztliche Maßnahme auf ihre Angemessenheit und Sorgfalt hin zu überprüfen. Im Streitfall können sie zur Schlüsselkomponente in der rechtlichen Bewertung eines Behandlungsfehlers werden.

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Johannes Falch, MBA

Rechtsanwalt
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Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt für Medizinrecht

Zertifizierter Berater für Kündigungsschutzrecht (VdAA – Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e.V.)

Zertifizierter Berater Arbeitsrecht für leitende Angestellte/Führungskräfte (VdAA – Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e.V.)

Patricia Jaritz, LL.M. (MedR)

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